Virtuelle Realität und maschinelle Moral

Seit ca. zehn Jahren werden moralische Maschinen intensiv erforscht. Auch autonome Autos waren früh im Fokus der zuständigen Disziplin, der Maschinenethik. 2012 wurde unter der Betreuung von Oliver Bendel eine Formel entwickelt, mit deren Hilfe autonome Autos in theoretischen Dilemmasituationen qualifizieren und quantifizieren können (Möglichkeiten, die er auf der TA-Konferenz in Prag Anfang 2013 kritisch diskutiert hat), später kamen Mittel wie annotierte Entscheidungsbäume hinzu. Forscher der Universität Osnabrück haben nun einen weiteren Ansatz vorgelegt, der autonome Autos als selbstlernende Systeme vorsieht. Josephine Lütke vom NDR fasst die Studie „Using Virtual Reality to Assess Ethical Decisions in Road Traffic Scenarios“ wie folgt zusammen: „Die Forscher haben eine Autofahrt auf einer Straße in der virtuellen Realität simuliert. Etwas mehr als 100 Probanden setzten sich eine spezielle Brille auf, die ihnen das Gefühl gab, tatsächlich Auto zu fahren.“ (Website NDR, 5. Juli 2017) Sie mussten nun – dies erinnert an die Moral Machine des MIT – in Dilemmasituationen entscheiden. „Mit diesen Ergebnissen der Versuche fütterten die Wissenschaftler dann einen Computer. Allerdings bekam die Maschine nicht alle Informationen. Etwa zehn Prozent der moralischen Entscheidungen, die die Menschen getroffen hatten, enthielten die Forscher der Maschine vor. Stattdessen musste der Computer die Versuche selbst machen. Und: Er hatte gelernt und entschied auch in den Fällen, die er noch nicht kannte, fast immer so, wie es auch die Menschen in den Versuchen gemacht hatten.“ (Website NDR, 5. Juli 2017) Weitere Informationen über www.ndr.de und journal.frontiersin.org.

Abb.: Virtuelle Realität und maschinelle Moral

Moralische Maschinen aus dem MIT

Die Maschinenethik ist eine junge, dynamische Disziplin. Insbesondere in den USA werden Konferenzen durchgeführt, Fachbücher veröffentlicht und Plattformen aufgebaut. Auch in Holland, England, Polen und in der Schweiz ist man aktiv. „Welcome to the Moral Machine!“ heißt es auf einer Website des MIT. „A platform for gathering a human perspective on moral decisions made by machine intelligence, such as self-driving cars.“ (Website MIT) Und weiter: „We show you moral dilemmas, where a driverless car must choose the lesser of two evils, such as killing two passengers or five pedestrians. As an outside observer, you judge which outcome you think is more acceptable. You can then see how your responses compare with those of other people.“ Es geht also um moralische Entscheidungen autonomer Systeme, denen wiederum moralische Urteile von Menschen folgen sollen. Damit verweist man auf eine lange Tradition von Gedankenexperimenten, die bereits in der Antike beliebt waren und mit dem Trolley-Problem und dem Fetter-Mann-Problem mit Blick auf Fahrzeuge und Menschen einschlägig wurden. Nun gibt es inzwischen einige Plattformen, die Dilemmata visuell aufbereiten, und auch das SRF hat sich Verdienste in diesem Bereich erworben. Besonders ist freilich folgende Option: „If you’re feeling creative, you can also design your own scenarios, for you and other users to browse, share, and discuss.“ Weitere Informationen über http://moralmachine.mit.edu/.

Tramway

Abb.: Berühmt ist das Trolley-Problem

Maschinenethik im SPIEGEL

Der SPIEGEL beleuchtet in seiner Titelstory der Ausgabe 9/2016 das autonome Auto („Steuer frei“). Markus Brauck, Dietmar Hawranek und Thomas Schulz lassen u.a. Daimler-Vorstand Wolfgang Bernhard, Daimler-Chef Dieter Zetsche, Google-Forscher Sebastian Thrun und Wirtschaftsinformatiker und Maschinenethiker Oliver Bendel zu Wort kommen. „Das können wir nicht dem Google überlassen“, wird Bernhard zitiert, und gemeint ist das Geschäft mit dem Roboterauto. Das Magazin wird grundsätzlich: „Technologische Umbrüche, wie sie in der Automobilindustrie jetzt anstehen, haben schon viele Firmen hinweggefegt, die unsterblich schienen. Den Fernsehhersteller Telefunken, den Schreibmaschinenfabrikanten Triumph-Adler, die Fotofirma Kodak.“ (SPIEGEL, 27. Februar 2016) „Wir haben uns aufgemacht“, so Zetsche laut SPIEGEL, „diese Statistik zu schlagen“. „Buchstäblich Hunderte Menschen wollten mir weismachen, dass man kein fahrerloses Auto bauen kann“, sagt Thrun. Der Forscher gilt als Pionier in diesem Bereich. Bendel verbindet Maschinen- und Tierethik. Erwähnt wird seine Konzeption eines tierfreundlichen Saugroboters namens LADYBIRD, aber auch seine Arbeit zu Roboterautos. „Er ist Spezialist für Maschinenethik und setzt sich seit Jahren mit den moralischen Dilemmata auseinander, die das selbstfahrende Auto mit sich bringt. … Für Bendel hängt die Akzeptanz von selbstfahrenden Autos auch davon ab, ob diese ethischen Fragen zur Zufriedenheit der Bürger beantwortet werden. Bendel misstraut den optimistischen Visionen der Industrie. Es sei fatal, Maschinen komplexe moralische Entscheidungen zu überlassen.“ (SPIEGEL, 27. Februar 2016)

Oldtimer_Auto

Abb.: Das Auto schaut dich an, bevor es dich tötet